Die Grube


Auf rechtwinkligen Band, gesäumt von Eingängen und Bordsteinkanten, von Kreuzungen und Gullydeckeln, komme ich an einem Bauzaun vorbei. Ich bin auf dem Weg zur U-Bahn. Seit Monaten klafft dort ein riesiges Bauloch. Eine Grube, groß und tief genug für zwei Etagen Garage, einen Supermarkt und viele Wohnungen darüber. Dafür wurde sie geplant, vermessen und ausgehoben. An den Seiten schützt Beton sie vor den drückenden Rändern.

Aus Stahl geformte Räder auf Gummisohlen, lange Arme aus Metall mit hydraulischen Schläuchen, geschwungenen Schaufeln und ein ständiges Hin und Her haben sie erschaffen. Fahrbare Bohrergestänge schlagen und schrauben Röhren hoch wie drei Stockwerke in den Grund. Der kann sich gegen so viel Gewalt nicht wehren. Er wurde vorher ausspioniert, hintergangen. Die Hände an den Steuerhebeln wissen, was sie erwartet.

Ach ja, nicht zu vergessen, vorher stand ein Supermarkt flach mit geschwungenem Dach auf dem Grund. An seiner langen Seite saßen in der Sonne die, die sonst nirgends einen Platz haben. Hier gab es Büsche, Bänke und Musik aus kleinen Boxen, einen Tisch aus Stein zum Karteln. Fußgänger kamen und gingen von der U-Bahn. Die alltäglichen Einkäufe fanden Platz in Tüten und Taschen schwebten über den Bürgersteig. Vor dem Eingang behauptete sich ein Stand mit frischem Gemüse, allerlei südlichen Früchten und grünen Töpfen. Die Menschen hinter den Auslagen waren bayrisch charmant. Sie waren erdig mit dem Humor einer Kartoffel. Marktleute, die jahrelang den Morgen in der Großmarkthalle begrüßen und am Abend zu Hause immer schon das Licht anknipsen müssen. Auf der Rückseite bedeckte ein Parkplatz, was dort sonst hätte sein können. Autos in der Innenstadt, die Autos in der Innenstadt.

Das alles wurde zuerst weggerissen. Dann standen die großen leeren Kipper Schlange. Die schwingenden Schaufeln beförderten den Boden aus der Grube in die Wanne aus Stahl. Die Steine, die Erde, der Grund wurde verbracht, irgendwo hin. Die Schaufeln senkten den Boden jeden Tag weite ab, der Rand wuchs in die Höhe. Die Rampen für die stählernen Fahrzeuge wurden immer abenteuerlicher. Ich schaute nach unten und fragte mich, wie geht das weiter? Irgendwann würde auch der letzte Weg nach oben in der Schaufel verschwinden. Eine Grube ist ein eckiges Loch ohne Zugang. Ich sage nur: Fallgruben! Dagegen schützt der Zaun, durch den ich schaute.

Irgendwann stand ein Bagger unten in der Grube allein und schaufelte. Eifrig und einsam baggerte er um sich herum. Was, wenn er fertig sein wird? Was wird, wenn alles dem Plan des Architekten entspricht? Wenn es keinen Stein mehr gibt, der sinnvoll bewegt werden muss? Eines Tages stand er da, stumm, still, zusammen geklappt. So ziemlich in der Mitte der Grube schien er, vielleicht bildete ich mir das ein, aber er schien zu warten. Wahrscheinlich war das nicht sein erstes Loch, wahrscheinlich hatte er die erste Angst vor dem Verlassen werden schon überwunden. Vielleicht wusste er, er muss nichts machen, nur stehen und warten. Um ihn herum Mauern aus Beton, keine Rampe, kein Ausweg.

Leider habe ich nicht mitbekommen, wie er verschwand. Wahrscheinlich hob ihn ein großer Kran über den Rand, an die Straße die Rettung. Eines Morgens war die Grube leer. Zäune schützten den Rand bzw. die Menschen vor dem Reinfall. Alle Maschinen waren weg. Die Ruhe blieb, als die Kinder am Mittag aus der nahen Schule an den Tisch gingen. Sie war da, als das Piccolo Italia die Rechnung brachte. So lag sie da, die Grube mit ihren Mauern, Tagen, Nächten und Wochen.
Warum passierte denn nichts, wieso geht es nicht weiter? Was sollte die Ruhe, wo doch offensichtlich noch nichts fertig war, außer der Grube?

Irgendwann hatte der Strassenfunk die Nachrichten auch zu uns getragen: Es ist das Grundwasser! Aha, das Wasser. In dem Fall ist es zu viel und es muss ständig abgepumpt werden, sonst füllt sich das Loch und es entsteht ein Teich. Die Vorstellung gefiel mir. Allerdings erlaubt der Verdichtungsdrang in der Innenstadt solche Verschwendung nicht. Statt Tiefgarage, Supermarkt und Wohnungen zu bauen, wird seit vielen Monaten gepumpt. Das Wasser läuft in die Grube. Kaum hat es sic ausgebreitet, saugt ein schwarzer geringelter Rüssel das Wasser ein und zieht es nach oben. Dort verschwindet das Grundwasser über Leitungen in der Kanalisation.

Im Loch, auf dem Kies, in der Mondlandschaft mitten in der Stadt. Auf dem von großen Reifen und breiten Ketten platt gewalzten Boden, bestehend aus einer Milliarde Kieseln im Quadratmeter, in dieser Mondlandschaft zwischen den Häuserblöcken, eingeschlossen von Mauern aus Beton, entsteht etwas. Hier, im wüsten, unberührten Grund, geschützt von Zäunen gegen den Fall, dort unten, wo es ständig feucht ist, weil das Wasser von den Rändern sich erst sammeln muss, dort wird es grün. Ein sanfter Teppich breitet sich über die runde Oberfläche der kleinen Steine. Wie ein zarter Hauch eines grünen Schleiers. Aus dem Handgelenk mit der Dose über die raue Oberfläche gesprüht, vorsichtig. Es sieht aus wie ein Test der Natur. Geht da was? Aus ihrer Sicht ist die Frage rein rhetorisch. Die Natur kann immer und überall Welten erschaffen. Wir müssen sie nur lassen.