Das Konzert
Die Rahmenbedingungen:
- das Ticket mit der Nummer 1905 weist den 19.5.2020 20 Uhr als Eventbeginn aus.
- Der Platz ist in Reihe 38 auf Sitz 7 damals und heute in der Arena reserviert.
- Die Kosten dafür errechnet der Veranstalter mit 87.75 Euro.
- während die Musik in der Halle keinen Ausweg findet, habe ich vier halbe Helle und zwei Mars-Riegel konsumiert.
Das Publikum ist wie das Treffen einer Eigentümergemeinschaft. Wer das zweifelhafte Erlebnis nicht kennt, dann hilft vielleicht das letzte Treffen der Abi-Klasse zum zwanzigjährigen Jahrestag etwas weiter oder einfach ein Grillabend im Innenhof der Wohnungsgenossenschaft.
Mein Sitznachbar kommt vom Getränkestand und bringt ihr eine Apfelsaftschorle und sich ein Becher Wasser mit. Rechts von mir, etwas oberhalb im Rang steht ein Mann. Den blauen Pullover lässig über dem Poloshirt gebunden. Seine Geheimratsecken wippen aufgeregt, gleich hat das Warten ein Ende. Auf der Karte ist zwanzig Uhr als Beginn aufgedruckt, es ist kurz nach acht. Erste Pfiffe verhallen unsicher. Zwei Reihen links von mir steht eine Frau auf dem Stuhl. Trotzdem kann sie kaum über die Köpfe der vor ihr stehenden Schauen. Mein zweites Bier ist jetzt schon alle. Den Becher lege ich auf den Sitz neben mir, wo gerade noch die Zeit schlafend lag.
Es wird dunkel und ein Johlen beginnt. Ich sitze noch immer, Starrkopf, und sehe doch ein bisschen mehr. Die Handys werden gezückt und über den Bildschirm kann ich einen Blick auf die Bühne erhaschen. Zwei Männer vor einer Videoleinwand. Der eine hat eine Art Geweih auf dem Kopf und steht hinter einem Monitor, auf dem er irgendwie Musik zu machen scheint. Der andere singend an der Bühnenkante. Die Pet Shop Boys. Pioniere des Elektropop, Vorreiter, Wegbereiter. Ich mag ihre Musik, doch ehrlich. Das Hören schafft Leichtigkeit und ein Lächeln ins Gesicht, wenn der Moment passt. Mir kommen allerdings zweifel, ob ich ein Konzert der Jungs unbedingt gebraucht hätte.
Der Elektro Pop der Pet Shop Boys erfüllt die akustische Grotte der Olympiahalle wie Ketchup, der die Pommes umhüllt und ihnen den Knack nimmt. Die Hände sind oben, die Sitze verweist. Leute, denk ich, nach der Musik der Jungs kann man nicht tanzen, es geht nicht. Also bleibt sitzen, dafür habt ihr gezahlt! In meinen Discojahren habe ich es oft probiert. Du denkst, da ist ein Rhythmus, dem der Körper folgen könnte, schon ist er verwischt. Bleibt nur das Hören und Wippen mit den Füßen.
Ich sitze und horche. Ich denke, tönt wie immer. So kenn ich den Sound seit Jahren. Die Übergänge zwischen den einzelnen Titel sind geschliffen wie eine hochwertige Linse. Die Bewegungen im Publikum werden schwächer und reduzieren sich um ein unsicheres Hin und Her der Hüften. Viele Paare um mich herum, auch Mutter-Tochter Konstellationen. Direkt vor mir hat sich ein solches Doppel positioniert. Sie Jeansjacke und lange offensiv zur Schau getragene grauen Haare. Die Tochter dazu trägt ein Rüschenkleid, welches die Tattoos im Nacken kaum verdeckt.
Nach einer halben Stunde passiert etwas, was nicht mir der Musik zu erklären ist, die läuft dahin. Ok, ich raffe mich auf und stehe auf. Die Bühne im Rücken begrenzt durch eine gebogene Videowand, flackert in perfekter Synchronität zur Musik. Eine technisch saubere Inszenierung. Der Videovorhang fährt auf die doppelte Höhe heraus. Das ist der Grund für das Raunen. Ein wenig mehr an Illusionsfläche. Mir fällt die Zeit, gerade noch neben mir, ein. Sie hatte recht, es ist nicht live. Was ich da sehe und höre, ist ein gut choreografierter Auftritt. Egal, der Mensch will Theater, bitte!
Und genau da, ich beginne gerade mit der Masse zu verschmelzen, erlaubt sich die Zeit eine kleine Gemeinheit. Sie schaut kurz durch den Vorhang und blinzelt mir zu. Für alle anderen ist es ein Moment, in dem live nichts passiert. Es gibt eine Unterbrechung in der Tonanlage und Vergangenheit kommt kurz ins Wanken. Alles geht schnell, die Schallwellen verklingen nicht wirklich, sie können nicht raus und so fällt im wabernden Tonbrei der kurze Ausfall kaum auf. So was Verspieltes hätte ich der Zeit nicht zugetraut. Ich grinse zur Bühne und denke an dich.
Damit bin ich nicht allein. Meist paarweise steht das Publikum nebeneinander. Die rasierten Kahlköpfigen mit geschminkten Gesichtern und McFit-Oberkörper neben den Heten mit Corona-Masken. Sie schauen nach vorn, alle. Aber sie sehen nicht hin. Ehrlich, es gibt da nicht viel zu entdecken. Das Bild der Videowand gleicht einem schnell laufenden Bildschirmschoner aus der Familie der galaktischen Feuerblumen. Die Blicke sind im Tunnel zur Bühne gefangen. Dann fällt es mir ein: Sie schauen die Vergangenheit an und sehen sich selbst, als die Musik noch live war.
Früher! Was für ein Paradies der Gedanken. Ein Flattern im Bauch und Aufregung vor den vielen ersten Malen. Sie stehen nebeneinander, sind Jahre entfernt. Die Gedanken in den Köpfen kreisen, provozieren Gefühle, die nichts mit der Person, deren Hand zum Greifen nah wäre, zu tun haben.
So gesehen kommen mir die beiden auf der Bühne vor wie Zeremonienmeister auf dem Blocks-Berg zur Walpurgisnacht. Dabei ist die Message der Pet Shop Boys gar nicht so zuckersüß, wie die Blicke. Sie entspringen eher dem realen Leben, wie es stattfindet damals und heute.
„Go West“, „Rent“
„Opportunities“ (Lets make lots of Money)
„You only tell me you love me when you’re drunk“
„Allways on my mind“…
Ihre Gesichter sind glücklich und verstrahlt. Ich schiebe mich durch die Reihe zu den Treppen, raus aus der Arena. Ich erhasche nur nettes Lächeln und sehe strahlende Gesichter, die das Feuer der Millionen LED’s hinter den beiden Jungs reflektieren.